/// WIE TOP START-UPS IHREN VERTRIEB VERGESSEN

In den vergangenen Monaten durfte ich zwei Tech-Start-ups von der Entwicklungsphase zur Markteinführung begleiten. Beide waren kurz vor der Go-to-Market-Phase, Ihr Produkt war bereits fertig entwickelt, Pilottests hatten erfolgreich stattgefunden und potenzielle Kunden zeigten reges Interesse. Darüber hinaus führte ich einige Gespräche mit Start-up Gründern, die ihre Produkte und Dienstleistungen bereits auf den unterschiedlichsten Märkten anbieten, über ihre Herausforderungen, ihre Finanzausstattung und ihre konjunkturellen Einschätzungen für das Jahr 2024.

Zu späte Auseinandersetzung mit dem Vertrieb 

Ein Phänomen konnte ich bei den aufgeführten Start-ups beobachten: Es wurde sich zu spät mit dem eigenen Vertrieb auseinandergesetzt. Die Aufgaben Vertriebsziele definieren, Zielgruppenanalyse, Wettbewerbsbeobachtung, Pricing, Sales-Pipeline inkl. Zielkundenliste, CRM-System sowie Sales-Controlling, mögliche Vertriebspartnerschaften, die Entscheidung über den direkten oder den indirekten Vertrieb an den Markt zu gehen, grundsätzliche Vertriebskanalauswahl und die Deckungsbeitragsberechnungen pro Produkt und Dienstleistung wurden nur mäßig behandelt. Zudem wurde in den Business-Plänen die Personalausstattung für den Vertrieb mitsamt Außendienst und Innendienst nicht oder zu gering budgetiert. Ich spreche hier nicht vom Aufbau einer aufwendigen Sales-Force, es geht in diesem Stadium häufig nur um 2 bis 3 Personen, die sich um die Akquise und Kundenbetreuung kümmern.

Die häufigste Antwort auf meine Frage an die Gründer, wer denn den Vertrieb zukünftig übernehmen soll, war „das machen wir nebenbei“.

Bei allem Verständnis und der Sympathie für den Enthusiasmus und das Engagement der Gründer, diese Arbeitsaufteilung wird nicht funktionieren. Nicht, weil sie nicht vertrieblich begabt wären, im Gegenteil, sehr oft können die Gründer ihr Produkt am besten verkaufen und sind zumeist am überzeugendsten. Sie werden nicht erfolgreich sein können, weil Ihnen schlichtweg die Zeit dafür fehlt, einen systematischen Vertrieb umzusetzen, hartnäckig zu akquirieren und eine hohe Erreichbarkeit für die Kunden zu gewährleisten.

Michael Kieppe, Dozent für Key Account Management an der Steinbeis Augsburg Business School

Die Aufgaben von Gründern sind vielfältig
Hier sind einige der wichtigsten Aufgaben, die Gründer typischerweise übernehmen:

  • Idee und Konzeptentwicklung: Gründer identifizieren eine Marktlücke oder ein Problem und entwickeln eine innovative Idee oder Lösung, die den Kern ihres Start-ups bildet.
  • Businessplan erstellen: Gründer erstellen einen detaillierten Businessplan, der ihre Geschäftsidee, Zielgruppen, Wettbewerbsumfeld, Geschäftsmodell, Marketingstrategien, Finanzprognosen und andere wichtige Aspekte beschreibt.
  • Team aufbauen: Die Auswahl und Führung eines kompetenten Teams sind entscheidend. Gründer müssen in der Lage sein, talentierte Mitarbeiter zu gewinnen, zu motivieren und zu führen. In der Regel müssen Programme für Mitarbeiter-Share-Optionen ausgearbeitet werden, sonst lassen sich gute Schlüssel-Mitarbeiter kaum gewinnen.
  • Finanzierung sichern: Gründer sind oft dafür verantwortlich, Investoren zu gewinnen, Finanzierungsmöglichkeiten zu prüfen und sicherzustellen, dass das Unternehmen über ausreichende Ressourcen verfügt, um zu wachsen.
  • Produktentwicklung: Sie überwachen die Entwicklung des Produkts oder der Dienstleistung, stellen sicher, dass es den Bedürfnissen der Zielgruppe entspricht, und berücksichtigen dabei Feedback von potenziellen Kunden.
  • Marketing: Gründer sind oft direkt oder indirekt an der Entwicklung von Marketingstrategien beteiligt, um das Produkt oder die Dienstleistung zu bewerben. Social Media Beiträge kommen zumeist von den Gründern direkt.
  • Networking und Beziehungsmanagement: Der Aufbau von Beziehungen zu anderen Unternehmern, Investoren, Branchenexperten und potenziellen Kunden ist wichtig, um das Netzwerk des Start-ups zu erweitern und unterstützende Ressourcen zu gewinnen.
  • Operative Aufgaben: In den frühen Phasen eines Start-ups sind Gründer oft in viele operative Aufgaben involviert, von der Büroorganisation bis zur Projektverwaltung.
  • Verhandlungen u.a. mit Geschäftspartnern, Mitarbeitern, Banken, Anwälten, Vermietern etc.
  • Langfristige Strategieentwicklung: Gründer müssen eine langfristige Vision für ihr Unternehmen entwickeln und die Strategien festlegen, um diese Vision zu verwirklichen.

Es ist zu beachten, dass die genauen Aufgaben von Gründern je nach Branche, Größe des Start-ups und Unternehmensentwicklungsstadium variieren können. Häufig tragen Gründer viele Hüte und müssen bereit sein, sich wechselnden Anforderungen anzupassen. Die Aufzählung ist sicherlich nicht vollzählig, denn das Pflegen von Lieferantenbeziehungen wurde in diesem Zusammenhang gar nicht erwähnt.

Ohne Kunden, kein Umsatz

Jetzt stelle ich stets die Frage, wo bleibt in diesem speziellen und verrückten Start-up Alltag noch die Zeit, um Kunden zu identifizieren, zu akquirieren, zu betreuen und in eine lange Kundenbeziehung zu überführen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt bekomme ich regelmäßig Zustimmung von Seiten der Gründer, dass ihnen für die Kundenanliegen und den Aufbau der notwendigen Kundenbeziehungen zu wenig Zeit zur Verfügung steht. Das unangenehme ist nur, ohne Kunden, kein Umsatz.

Diese Erkenntnis ist nicht bahnbrechend, doch die Frage ist jedes Mal, wie konnte es dazu kommen, dass der Vertrieb nahezu ausgeblendet wurde? Die Begeisterung für das neue Produkt, für die neue IT-Lösung, für die Uniqueness des Angebotes ist so überwältigend groß, dass die kaufmännisch notwendigen Themen nicht im Vordergrund stehen. Insbesondere bei Tech-Start-ups, gibt es oft 5-8 IT-Produktentwickler verstreut auf der ganzen Welt, die nichts anderes tun, um das Produkt u.a. auch mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) zur Marktreife zu bringen und sämtliche denkbaren Zusatz-Features mit den unterschiedlichsten Schnittstellen automatisiert darstellen zu können. Ob es dafür geeignete Kunden gibt, die diese Produkte und Dienstleistungen zu den beabsichtigten Preisen einkaufen, wird erst viel später berücksichtigt. Die Tech-Faszination und Produkt-Begeisterung schlägt in nicht wenigen Start-ups die betriebswirtschaftlichen Grundlagen, so lautet zumindest mein Resümee.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es aktuell schwieriger und aufwendiger geworden ist, entsprechende Finanzmittel durch Investoren zu erhalten, ist es von besonderer Bedeutung, erste Umsätze generieren zu können, um interessierten Investoren zu zeigen, dass bereits Kunden existieren, Rechnungen bezahlt werden und das Geschäftsmodell funktioniert.


Eine profunde Go-to-Market-Strategie ist unerlässlich

Die Go-to-Market (GTM) Strategie ist entscheidend für den Erfolg eines Start-ups, aber es gibt verschiedene Herausforderungen, die während der Umsetzung auftreten können. Hier sind einige Herausforderungen zu nennen, die Start-ups bei der Go-to-Market Strategie erfahren können:

  • Ungenügende Zielmarktanalyse: Ein Mangel an gründlicher Recherche und Verständnis für die Zielgruppe kann dazu führen, dass das Produkt oder die Dienstleistung nicht den tatsächlichen Bedürfnissen des Marktes entspricht.
  • Fehlende Differenzierung: Wenn ein Start-up nicht klar darstellen kann, warum sein Produkt oder seine Dienstleistung einzigartig oder besser ist als die Konkurrenz, fällt es schwer, sich von anderen tradierten Angeboten abzuheben.
  • Finanzierungseinschränkungen: Die Umsetzung einer effektiven GTM-Strategie erfordert oft finanzielle Ressourcen für Marketing, Vertrieb und andere Aktivitäten. Ein Mangel an Finanzierung kann die Reichweite und Effektivität merklich beeinträchtigen.
  • Fehlende Skalierbarkeit: Eine GTM-Strategie muss skalierbar sein, um mit dem Wachstum des Unternehmens Schritt zu halten. Probleme können auftreten, wenn die Strategie nicht an verschiedene Märkte oder Kundensegmente angepasst werden kann.
  • Zeitliche Verzögerungen: Verzögerungen bei der Markteinführung können auftreten, wenn die Produktentwicklung länger dauert als geplant oder wenn es Schwierigkeiten gibt, Partnerschaften oder Vertriebskanäle zu etablieren. Das Time-to-Market Ziel kann auf wettbewerbsintensiven Märkten oft entscheidend sein.
  • Probleme mit rechtlichen Vorschriften: Start-ups müssen sicherstellen, dass ihre GTM-Strategie den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Probleme in diesem Bereich können zu rechtlichen Konflikten und Reputationsschäden bis hin zu Lieferstopps führen.
  • Unzureichende Messbarkeit und Analytik: Eine effektive GTM-Strategie erfordert klare Messgrößen und Analytik, um den Erfolg zu verfolgen. Ein Mangel an Daten und Analysen kann es schwer machen, den ROI zu bewerten und die Strategie zu optimieren.

Ein Gründer ist ausschließlich für den Vertrieb verantwortlich
In der Zusammenarbeit mit Gründern hat mich stets ihre Begeisterungsfähigkeit, ihre Energie und Dynamik, ihr Durchsetzungswille, ihre Leidenschaft für das Entrepreneurship über allen Maßen beeindruckt. Eine derartige Einsatzbereitschaft, Leidensfähigkeit und intrinsische Motivation zugleich, auch in Ihren Teams, habe ich in konventionellen Unternehmensstrukturen selten angetroffen. Dieser positive Team-Spirit ist zu nutzen und dabei ist die große Vertriebsaufgabe von Anbeginn nicht aus den Augen zu verlieren. Daher ist meine Empfehlung, im Gründerteam jemanden frühzeitig auszuwählen, der sich ausschließlich um den Vertrieb und die Kunden kümmert. Er ist von allen anderen Aufgaben zu befreien. Besitzt dieser Gründer eine Vertriebs-DNA und ein tiefes Verständnis für den Kundennutzen, ist er prädestiniert dafür, diese Rolle erfolgreich auszufüllen.

Certified Sales & Key Account Manager Sales & Marketing

Über den Autor: Michael Kieppe hat als CEO von Kaffee Partner eine der größten Vertriebsorganisationen in der DACH-Region geführt, die mit konsequentem Leadmanagement erfolgreich waren. Danach war er als Berater für den Tchibo Coffee Service und als Managing Director von Selecta in DE & AT verantwortlich. Zudem bekleidete er Führungspositionen bei Vamed, Sixt und Bertelsmann und war als Unternehmensberater u.a. für Cap Gemini Ernst & Young tätig. Er ist einer der erfahrensten Experten auf dem Gebiet des Multi-Channel-Managements & CRM-Systemen für den Mittelstand und deren Vertriebsorganisationen